Der Vielreisende ist zum Spaziergänger geworden. Mikael Colville-Andersen sagt, in den vergangenen zwölf Monaten habe er seine Heimatstadt Kopenhagen mehr entdeckt als in den vielen Jahren zuvor. Die kleinen Nebenstraßen, die versteckten alten Parks, alles mitten in der Innenstadt. Wenn er das früher gewusst hätte!
Dabei ist Colville-Andersen eigentlich weltweit dafür bekannt, anderen Menschen seine Heimatstadt zu erklären. »Copenhagenize« heißt das von ihm propagierte Modell, es ist der Aufruf zur Kopenhagenisierung anderer Städte auf der ganzen Welt. Was damit gemeint ist, weiß jeder, der schon einmal an der Inderhavnsbroen stand: Tausende Radfahrer, breite Wege und ein Verkehrskonzept, das unmotorisierten Verkehr genauso zu respektieren scheint wie Autofahrer.
Die Inderhavnsbroen bringt Fußgänger und Radfahrer in Kopenhagen auf breiten Wegen über den Hafen
Foto: Peter Meissner / imago images / PEMAX
Für viele Metropolen ist die dänische Hauptstadt damit zum Vorbild geworden. Colville-Andersen hatte daran, so viel scheint sicher, einen guten Anteil. Seit 2006 beschäftigt sich der gelernte Journalist mit der Fahrradkultur Kopenhagens, er spricht auf internationalen Konferenzen und hat die Wege von 16.000 Radfahrern in Kopenhagen dokumentiert, seit 2011 veröffentlicht er regelmäßig einen Index, der die Fahrradfreundlichkeit von mehr als 80 Städten vergleicht. Eine daraus entstandene Agentur berät heute Städte in aller Welt, darunter Amsterdam, Barcelona oder Montreal.
Doch die Pandemie hat auch die Arbeit von Stadtplanern verändert. In vielen Metropolen ist Nähe zur Gefahr geworden, Millionen von Touristen sind im vergangenen Jahr nicht gekommen, der Autoverkehr ging deutlich zurück. Auch Mikael Colville-Andersen sagt, er arbeite jetzt anders. Er zoome viel, erzählt der 53-Jährige per Webcam aus Kopenhagen, gerade habe er mit einem Bekannten aus einer italienischen Stadtverwaltung telefoniert. Auch von zu Hause aus gebe es viel zu tun, er wolle erreichen, dass die Pandemie in Europa als Chance genutzt werde, um Innenstädte dauerhaft zu verändern.
Foto: Felix Modler-Andersen
Mikael Colville-Andersen, Jahrgang 1968, ist ein Mobilitätsexperte und Stadtplaner aus Kopenhagen. Die von ihm gegründete Agentur Copenhagenize Design berät Städte bei der Umgestaltung ihrer Verkehrswege und bei der Entwicklung neuer Innenstadtkonzepte. Seit 2018 moderiert er für den kanadischen Rundfunk die Sendung »The Life-Size City«.
SPIEGEL: Sie haben vor einigen Jahren gefordert, dass Autos nur noch wie Zigaretten verkauft werden sollen: mit einem großen Warnhinweis. Ist das wirklich die Zukunft?
Colville-Andersen: Ich weiß, was Sie jetzt denken. Das erwartet man so von einem Radfahrer wie mir. Ich bin jedoch nicht gegen das Auto, sondern einfach dafür, dass Städte wieder lebenswert sind. Autofahren macht Spaß. Aber Fahrzeuge, in denen nur eine Person sitzt und die meist nur herumstehen, passen wirklich am allerwenigsten in unsere Innenstädte. Es war ein Fehler, Autos hereinzulassen. Sie kosten Leben, zerstören die Umwelt. Abgesehen davon nehmen Straßen und Parkplätze einfach unverhältnismäßig viel Platz weg.
SPIEGEL: Auf Zigarettenpackungen haben Appelle an das schlechte Gewissen bislang wenig gebracht.
Colville-Andersen: Das stimmt. Vermutlich war mein Vorschlag der falsche Ansatz damals. Die meisten Menschen fahren ja auch nicht zum Spaß mit dem Auto, sondern weil es weltweit so massiv gefördert wurde. Gerade deshalb sollten Städte jetzt auch wieder aktiv gegensteuern und anderen Mobilitätskonzepten mehr Platz einräumen.
Getrennte Radwege in Mailand: Die Stadt errichtete im vergangenen Jahr zahlreiche neue Strecken in der Stadt, die auch nach der Pandemie bleiben sollen
Foto: Emanuele Cremaschi / Getty Images
SPIEGEL: Europäische Großstädte wie Paris haben im vergangenen Jahr kurzfristig viele Kilometer zusätzliche Radwege eingerichtet. Ist das mehr als günstiges Marketing?
Colville-Andersen: Ich glaube schon! Es wäre verrückt, wenn das alles jetzt wieder abgebaut würde. Aber an einigen Orten bräuchte es Nachbesserungen, nur ein bisschen Farbe auf dem Asphalt reicht noch nicht aus, um eine Stadt fahrradfreundlicher zu machen. In Paris zum Beispiel sind die neuen Radwege kaum geschützt. Es braucht getrennte Verkehrswege und auch eine andere Infrastruktur: Anbindung an den Nahverkehr und Stellplätze. Städte wie Berlin oder Mailand sind da schon weiter. Dort gibt es inzwischen dauerhaft neue Radwege.
Der Arc de Triomphe in Paris: Wenn es nach der Stadtverwaltung geht, soll das Wahrzeichen in wenigen Jahren von deutlich weniger Verkehr umgeben sein
Foto: PCA-STREAM
SPIEGEL: Viele Innenstädte sind heute verwaist, schon vor der Pandemie wirkten sie oft steril und wenig lebenswert. Das Wohnen in den Zentren ist für viele Menschen unbezahlbar. Haben die Kommunen bald nicht ganz andere Sorgen als neue Verkehrswege?
Colville-Andersen: Die Innenstadt ist tot, das stimmt. Die meisten Probleme gab es aber, wie Sie sagen, schon vor der Pandemie. Es braucht deshalb Politiker, die sich trauen, ihre Städte zu gestalten. Es kann nicht sein, dass Büros leer stehen, während Wohnraum gebraucht wird. Ich finde, Berlin ist mit der Mietpreisbremse ein gutes Vorbild. Auch in anderen Städten gibt es ja inzwischen Vorstöße, um die Mieten wieder bezahlbar zu machen. An irgendeinem Punkt muss die Politik eben einschreiten.
Ich glaube, zahlreiche Städte haben gemerkt, dass die Pandemie eine Chance ist, das Zusammenleben zu verändern. In Paris gab es schon vor Corona sehr große Pläne, das Zentrum dauerhaft umzugestalten. Das hat sich jetzt einfach beschleunigt, auch an anderen Orten. In Vilnius sorgte der Bürgermeister dafür, dass 18 öffentliche Plätze für die Gastronomie geöffnet wurden, um die Abstandsregeln einhalten zu können. Jetzt ist die Innenstadt ein großes Freiluftcafé. Ich denke, viele Städte werden nach Corona nie wieder so aussehen wie davor, weil vieles jetzt in den Vororten stattfindet. Die Zentren werden dafür grüner und lebenswerter.
Auch der Park an der Avenue des Champs-Élysées in Paris soll deutlich aufgewertet werden – und künftig in einen teilweise begrünten Place de la Concorde münden
Foto: PCA-STREAM
SPIEGEL: Die meisten Konzepte konzentrieren sich auf die Innenstädte. Das mag für Büroangestellte oder Touristen nützlich sein, doch Menschen in den Vororten von Paris oder Madrid haben wenig davon. Sind neue Radwege nicht vor allem ein Wellnessprogramm für Gutverdiener?
Colville-Andersen: Diese Frage kenne ich fast nur aus den USA und Deutschland. Offenbar glauben viele, dass Radfahren etwas ist, das man nur für die Gesundheit oder den Umweltschutz macht. Aber das stimmt nicht. Wissen Sie was? In Kopenhagen zeigen Umfragen, dass genau ein Prozent das Rad nutzt, um damit die Umwelt zu schonen. Die meisten tun es, weil es unkompliziert ist und am schnellsten geht. Auch dass nur reiche Viertel durch Stadtplanung gewinnen, ist ein Mythos: Eine Untersuchung in London hat gezeigt, dass es vor allem die abgehängten Stadtteile waren, die von einer Verkehrsberuhigung profitierten.
SPIEGEL: Wer täglich zwei Stunden zur Arbeit pendelt, wird trotzdem kaum umsteigen.
Colville-Andersen: Vielleicht aber für eine Teilstrecke. Unser Ziel sollte es sein, das Rad zum attraktivsten Verkehrsmittel zu machen und mit öffentlichem Nahverkehr zu kombinieren. In Kopenhagen wird das Rad inzwischen auch in den Vororten sehr stark genutzt, seitdem es die entsprechende Infrastruktur gibt.
SPIEGEL: Sie sind mit Ihrer TV-Sendung »The Life-Sized City« um die ganze Welt gereist, um das Thema Stadtentwicklung anschaulich zu erklären. Gibt es Konzepte, von denen wir konkret in Europa noch lernen können?
Colville-Andersen: Die Europäer sind gut bei der Infrastruktur, aber alles dauert und ist kompliziert. Es werden oft kolossale Riesenprojekte geplant, doch einfache Experimente vor Ort sind ein Tabu. Ich habe in Taipeh und Mexiko-Stadt erlebt, wie Anwohner spontan ihre eigene Nachbarschaft verändert haben: Sie haben innerhalb kurzer Zeit den Verkehr in einigen Straßen reduziert, damit dort Kinder spielen konnten und neue Flächen für Kulturveranstaltungen entstehen. Bei uns bräuchte so etwas vermutlich viele Jahre. Das ist doch absurd. In Paris können sich Bürger jetzt auf ein kleines Blumenbeet in der Innenstadt bewerben und es dann selbst gestalten. Immerhin. So etwas brauchen wir öfter.
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