Der sportliche Wettkampf kennt den famosen Begriff »Start-Ziel-Sieg«. Seine schiere Schönheit besteht darin, dass er eine eigene kleine Geschichte erzählt, und es ist eine anziehende Erfolgsgeschichte. Die Welt liebt Start-Ziel-Sieger. Das Gegenteil des Begriffs Start-Ziel-Sieg lautet AstraZeneca. Man könnte als Gegenteil auch »Vollverbockung« oder »Generalfiasko« sagen, aber AstraZeneca klingt geschmeidiger, eine Mischung aus lateinischem Sprichwort und römischem Dichter.
An dieser Stelle ist essenziell zu erwähnen, dass es in dieser Kolumne nicht um Impfstoffwissenschaft geht – sondern um das Image der Vakzine, die teils von AstraZeneca provoziert wurde und teils durch unglückliche, fehlerhafte und unkluge Kommunikation Dritter entstand. Sowie durch eine radikale Dynamik in den sozialen Medien – denn das Publikum selbst, wir alle also, tragen eine große Mitverantwortung dafür, dass AstraZeneca wahrscheinlich unberechtigt zum Waterloo der Pandemie werden könnte. Das kann man nur verhindern, indem man die Entwicklung offen ausspricht, sie sich dadurch vergegenwärtigt und zurückkehrt zur rationalen Betrachtung. Das möchte ich hier versuchen.
Ausgerechnet ein Tropfen AstraZeneca hat diese Woche das innere Corona-Fass vieler Menschen zum Überlaufen gebracht. Die gegenwärtige Mischung aus Wut und Verzweiflung scheint mir von der Intensität her bisher ungesehene Größenordnungen zu erreichen. Die Aussetzung der Impfungen hat dabei eine wesentliche Rolle gespielt. Weil vorher Impfungen der Hoffnungsschimmer am Horizont waren beim endlosen Marsch durch das finstere Lockdown-Ödland. Um den vollen Umfang des Fiaskos zu verstehen, muss man berücksichtigen, dass bei der großen Mehrheit der Menschen die Coronaimpfung als Erlösung betrachtet wird, wahrscheinlich zu Recht.
So erklärt sich auch die Radikalität in den Reaktionen, etwa gegenüber den Fehlern des Bundesgesundheitsministers: Spahn steht zwischen uns und dem Erlöser! Spahn verweigert uns unseren Impfjesus! AstraZeneca hat sich auch durch diese Fallhöhe der Impf-Erlösung zu einer sündenbockhaften Projektionsfläche entwickelt: Alle Wut des Versagens, von der schiefgelaufenen Impfkampagne bis zur Ablehnung des Lockdowns – verdichtet sich im Impfstoff. Man schlägt AstraZeneca und meint die noch immer anhaltende verdammte Dreckspandemie. Das ist wirkseits gegen dem Stiefimpfstoff ziemlich sicher nicht gerechtfertigt, kommunikativ aber leider schon.
Das Gegenteil des Start-Ziel-Siegs – AstraZeneca – hat ein Vorspiel, für das das Unternehmen nichts kann. Bis November 2020 war mir wie vermutlich den meisten Menschen die Wirksamkeit von Impfstoffen ein kaum bekanntes Thema. Hätte man mich am 8. November gefragt, ob 72 Prozent Wirksamkeit viel oder wenig seien, ich hätte keine valide durchargumentierte Antwort gewusst. Streng genommen weiß ich sie immer noch nicht. Aber am 9. November 2020 wird die Wirksamkeit von Impfstoffen als neue, öffentlich breit bekannte Messgröße eingeführt. An diesem Tag gibt Biontech bekannt, mit seinem Impfstoff eine Wirksamkeit von 90 Prozent zu erreichen. Bumm. Das hört sich viel an, auch wenn man wenig darüber weiß, gerade dann. Und dabei bleibt es nicht. Denn wenig später kommt Moderna um die Ecke mit einem Wert von 94 Prozent. Ha, das ist mehr, also ist der Impfstoff besser, klar. Worauf Biontech die endgültigen Studiendaten bekannt gibt – mit einer Wirksamkeit von 95 Prozent.
Für eine Grippeimpfung gilt die Wirksamkeit von 45 Prozent als »hoch« und »gut«
Dieser Zweikampf um ein paar über 90 Prozent hatte bei der Einführung der Impfstoff-Wirksamkeit in die weitgehend ahnungsarme Öffentlichkeit tiefgreifende Folgen. Man kennt diesen Effekt aus der Kognitionspsychologie, er heißt Ankerheuristik. Die zuerst wahrgenommene Information, hier über Impfstoff-Wirksamkeit, setzt den Anker. Alle Informationen danach werden an diesem Anker ausgerichtet. Wie irreführend diese Ankerheuristik sein kann, lässt sich an einem falschen, aber einfach durchschaubaren Beispiel ablesen. Wenn eine Person mit 95 Prozent von einer Milliarde Euro reich ist, heißt das nicht, dass eine Person mit nur 50 Prozent von einer Milliarde arm ist. Hier lässt sich der Trugschluss leicht entlarven, weil die meisten Leute ein grobes Gefühl für Geldsummen haben.
Nach Biontech und Moderna kommt AstraZeneca mit seiner Blitzzulassung auf den Aufmerksamkeitsmarkt. Es handelt sich um eine andere, traditionellere Art von Impfstoff. In der ersten Kommunikation am 23. November 2020 ist die Rede von 70 Prozent Wirksamkeit. Impfstoff-Wirksamkeit ist eine Wissenschaft für sich, die auf eine unvorbereitete Öffentlichkeit ohne valide Vergleichsmöglichkeiten trifft – außer eben den 95 Prozent von Biontech. Man bekommt einen besseren Eindruck, wenn man eine Meldung des Ärzteblatts von Anfang 2020 liest. Dort wird für eine Grippeimpfung die Wirksamkeit von 45 Prozent als »hoch« und »gut« bezeichnet.
Dann, am 29. November 2020, wird ein wissenschaftlich-kommunikativer GAU des Unternehmens bekannt – nämlich wie die Wirksamkeit von 70 Prozent zustande kam: durch eine Art Mogelei. In einer Wirksamkeitsstudie wurde bei einer Gruppe eine Wirksamkeit von 90 erreicht. In einer anderen Studie auf einem anderen Kontinent dagegen 62 Prozent. Zusammengerechnet ergeben sich als gewichteter Durchschnitt tatsächlich 70 Prozent. Diese Kombination zweier Studien gilt als wenig seriös. Schlimmer noch ergaben sich die 90 Prozent bei einer Studie, bei der durch einen Irrtum falsch dosiert worden war. Die normale Dosierung erreicht nach wie vor nur knapp über 60 Prozent. Schon 70 Prozent schienen mit dem Biontech-Anker wenig – aber eine nochmalige Reduktion der Wirksamkeit samt Mogelmumpitz wird zum prozentualen Sargnagel. Auch in den großen redaktionellen Medien trägt die Berichterstattung nicht zum Vertrauen in AstraZeneca bei, und zwar gerade durch lieb gemeinte Argumentationen wie »60 Prozent Wirksamkeit heißt nicht, dass 40 Prozent krank werden.« Das geht an der Laien-Problematik vorbei, denn die lautet: 60 Prozent ist substanziell weniger als 95 Prozent.
Die Haltung »Alle Schuld außer uns« macht das Unternehmen unsympathisch
AstraZeneca hatte schon zu diesem Zeitpunkt kaum mehr eine Chance. Die hat das Unternehmen allerdings auch gezielt nicht genutzt. Keine umfassende Generalverbockung ohne eine Portion Hybris, und die liefert AstraZeneca ab dem 22. Januar 2021 frei Haus gut gekühlt nach ganz Europa. Das Unternehmen gibt bekannt, dass es die vertraglich vereinbarten Liefermengen nicht schaffen werde. Eine solche Meldung hat es zuvor auch von Biontech gegeben – aber während das Mainzer Unternehmen technische Schwierigkeiten als Haupterklärung angibt, greift AstraZeneca ins Begründungsklo. Der schwedisch-britische Pharmakonzern erklärt, der Brexit und die doofe EU selbst trügen die Schuld am Vertragsbruch. Nicht, dass die EU in Impffragen ein tadelloses oder gutes oder auch nur unkatastrophales Image hätte. Aber die Haltung »Alle Schuld außer uns« macht das Unternehmen AstraZeneca maximal unsympatisch und den gleich heißenden Impfstoff fragwürdiger. Und es kommt noch schlimmer und immer noch schlimmer.
Denn kurz vor der geplanten Zulassung in der EU berichten verschiedene Medien ab dem 25. Januar von einer Wirksamkeit des Impfstoffs von nur acht Prozent bei über 65-Jährigen. Wahrscheinlich beruht diese Falschinformation auf einer Fehlinterpretation der Wirksamkeitsstudie, aber in Verbindung mit den vermeintlich geringen 70 Prozent Wirksamkeit ergibt sich der Eindruck: AstraZeneca scheint irgendwie kein guter Impfstoff zu sein, von einer irgendwie nicht so guten Firma. Dieser Eindruck kippt ins Fatale, als der Impfstoff in der EU am 29. Januar tatsächlich zugelassen wird – allerdings nur für Menschen unter 65 Jahren. Tatsächlich ist der Grund dafür, dass es bei über 65-Jährigen schlicht zu wenig Daten für eine angemessene Beurteilung gibt. Aber in der Öffentlichkeit ist längst das Bild entstanden, dass es hier um einen Impfstoff zweiter Klasse geht. Wenn überhaupt.
Der Sturzflug wird am 7. Februar noch beschleunigt, als die ersten Analysen der Wirksamkeit von AstraZeneca bei der Coronamutante aus Südafrika bekannt werden. In einer Pressekonferenz des südafrikanischen Gesundheitsministers wird eine Wirksamkeit weitgehend infrage gestellt. Die Infektionsunterschiede zwischen ungeimpften und AstraZeneca-geimpften Probanden sind statistisch nicht signifikant. Der SPIEGEL schreibt über die Übersetzung dieser wissenschaftlichen Einschätzung: »Was der AstraZeneca-Reinfall in Südafrika bedeutet – Gegen die in Südafrika verbreitete Coronavariante B.1.351 bietet der AstraZeneca-Impfstoff keinen richtigen Schutz.« In Verbindung mit den Verbreitungsszenarien – bald überall Mutanten! – ist das ein harter Wirkungstreffer. Und weil wir in Deutschland sind, wo dem Geldverdienen immer etwas Unseriöses anhaftet, ist auch die Meldung des Unternehmens am 11. Februar ein echter Nachteil. AstraZeneca gibt bekannt, im Jahr 2020 einen Milliardengewinn verbuchen zu können.
Unbeabsichtigt wird das Ansehen von AstraZeneca mehrfach geschwächt
Und es geht ohne Pause weiter. Ebenfalls am 11. Februar werden in Dortmund rund 300 Mitarbeiter des Rettungsdienstes mit AstraZeneca geimpft. Am nächsten Tag meldet sich ein Viertel der Geimpften krank. Ähnliche Meldungen kommen aus anderen Teilen des Landes. Spätestens ab Mitte Februar erkennen Teile der Politik, wie schwierig und sogar gefährlich die öffentliche Verachtung des AstraZeneca-Impfstoffs werden kann und versuchen gegenzusteuern. Leider geschieht das auf enorm unbeholfene Art, wahrscheinlich ohne Rücksprache mit Kommunikationsfachleuten. Denn das Standardargument ist gar kein Argument, sondern eine schlichte Gegenbehauptung: AstraZeneca sei ein hervorragender Impfstoff. Unabhängig vom Wahrheitsgehalt ergibt sich dadurch unbeabsichtigt sogar eine doppelte Schwächung von AstraZeneca in der Öffentlichkeit.
Erstens wirkt die Gegenbehauptung ohne präzise Begründung genau entgegengesetzt, weil das Publikum den Eindruck bekommt, es solle überredet werden. »Wenn sie auch die Absicht hat, den Freunden wohlzutun, so fühlt man Absicht und man ist verstimmt«, sagte Goethe. Reaktanz heißt die Trotzreaktion, die fehlgeschlagene Überredungsversuche ins Gegenteil verkehrt. Zweitens ist ein Grundgesetz der politischen Kommunikation, dass nichts jemanden schwächer erscheinen lässt als die Notwendigkeit, ihn öffentlich in Schutz zu nehmen. Mum says I’m cool. Für Impfstoffe gilt das auch.
Interessant ist diesbezüglich Ende Februar die Stimmung auf Twitter, wo eine Art Impfstoff-Vorzeigebescheidenheit entsteht. Man brüstet sich damit, sich natürlich auch mit AstraZeneca impfen zu lassen. Der Sound ist unangenehm in einer Weise, die im angelsächsischen Sprachraum »humblebrag« genannt wird, übersetzt etwa »Angeben mit der eigenen Bescheidenheit«. Allerdings komplettiert sich auf diese Weise das Bild eines mangelhaften Impfstoffs. Denn wer sich rühmt, sich sogar mit AstraZeneca impfen zu lassen, der konstruiert eine eigene Stärke aus der Schwäche des Impfstoffs und demoliert damit ungewollt erneut dessen Image. Also, ich würde sogar verschimmeltes Brot essen – ist eben kein Kompliment für das Brot.
Wir sind nicht gut in der realistischen Einschätzung von Wahrscheinlichkeiten
Mit diesem kaum wieder zu bewältigendem Imageballast taumelt AstraZeneca in den März – und schafft das physikalisch für unmöglich gehaltene Kunststück, vom Tiefpunkt aus noch einmal abzustürzen. Ab dem 12. März wird zunächst in Dänemark, dann in Norwegen, Island, Irland, den Niederlanden, Bulgarien, Österreich, Litauen, Lettland, Estland, Italien, Luxemburg und Rumänien ein vollständiger oder teilweiser Impfstopp mit AstraZeneca verhängt. Deutschland schließt sich auf Empfehlung des dafür zuständigen Paul-Ehrlich-Instituts am 15. März an.
Grund ist eine sehr seltene, besondere und besonders tödliche Form von Hirnvenen-Thrombose, die – so stellt es Karl Lauterbach dar – »mit großer Wahrscheinlichkeit« auf die Vakzine zurückzuführen sei. Zwar sind bisher unter 1,6 Millionen Geimpften in Deutschland nur 7 Fälle bekannt, aber davon verlaufen drei tödlich. So klein diese Zahl erscheinen mag, die Auswirkung auf die öffentliche Wahrnehmung ist gigantisch.
Obwohl eine direkte kausale Verknüpfung wie von Lauterbach in den Medien kaum gezogen wird, ist allein die Nennung von Hirnvenen-Tod und AstraZeneca in einem Atemzug bitter wirksam, auch abseits von wissenschaftlichen Bestätigungen, Relativierungen und Größenordnungen. Wir alle sind einfach nicht gut in der realistischen Einschätzung von Wahrscheinlichkeiten, wäre es anders, Lotto würde morgen pleitegehen. Und unsere pandemische Aufregung trägt nicht zu einer realistischeren Einschätzung bei. Auch das Fehlen einer verlässlichen, bestimmten, fehlereingestehenden und damit glaubwürdigen Kommunikation der Politik lässt die AstraZeneca-Beteuerungen schal wirken.
Schließlich lässt die Bundesregierung verlauten, dass der Stopp der Impfung mit AstraZeneca schon aus juristischen Gründen unumgänglich gewesen sei. Es hätten sonst nach der Warnung des Paul-Ehrlich-Instituts Körperverletzungsklagen gedroht. Einen faktisch ziemlich wirksamen Impfstoff in der Öffentlichkeit von der Gesundheitserlösung zur potenziellen Körperverletzung abstürzen zu lassen; AstraZeneca hat es geschafft, mit Pech, Unvermögen und vor allem unser aller Hilfe. Wir müssen aus dieser Sackgasse raus, aber wir werden es nur schaffen, wenn wir AstraZeneca nicht mehr als Wutsündenbock missbrauchen. Ach ja, und wenn der Impfstoff möglichst wenige weitere Hirnvenen-Thrombosen verursacht.